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Bei einer betriebsbedingten Massenentlassung hat die Auswahl der zu kündigenden Arbeitnehmer anhand bestimmter sozialer Kriterien zu erfolgen. Bei der Gewichtung des Lebensalters kann hierbei zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, dass er bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht. Das Gleiche gilt, wenn der Beschäftigte rentennah ist, weil er eine solche abschlagsfreie Rente oder die Regelaltersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem ausgesprochenen Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen kann.

In dem hier zu Grunde liegenden Fall war die im Jahr 1957 geborene Klägerin seit 1972 bei dem Unternehmen beschäftigt, das sich im Insolvenzverfahren befand. Der Insolvenzverwalter erstellte in Abstimmung mit dem Betriebsrat eine Liste mit 61 der 396 Arbeitnehmer, für die er die betriebsbedingt Kündigung vorsah. Der Klägerin wurde zum 30. Juni 2020 gekündigt. Der Insolvenzverwalter begründete dies damit , dass die Klägerin in ihrer Vergleichsgruppe – auch in Bezug auf den von ihr benannten, 1986 geborenen und seit 2012 beschäftigten Kollegen – sozial am wenigsten schutzwürdig. Sie habe als einzige die Möglichkeit, ab 1. Dezember 2020 und damit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte (§§ 38, 236b SGB VI) zu beziehen.

Nach erneuten Verhandlungen kündigte ihr der Insolvenzverwalter vorsorglich erneut zum 30. September 2020. Arbeits- und Landesarbeitsgericht gab beiden Kündigungsschutzanträgen der Frau statt.

Die Revision des Insolvenzverwalters hatte schließlich vor dem Bundesarbeitsgerichts teilweise Erfolg. Die Betriebsparteien durften die Rentennähe der Klägerin bei der Sozialauswahl bezogen auf das Kriterium “Lebensalter” berücksichtigen, so der Senat. Sinn und Zweck der sozialen Auswahl sei es, unter Berücksichtigung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig ist.

Das Auswahlkriterium “Lebensalter” ist nach Ansicht des Bundesarbeitsgericht ambivalent. Zwar nimmt die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil lebensältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie fällt aber wieder ab, wenn man entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen – verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil man eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht. Diese Umstände können der Arbeitgeber beziehungsweise die Betriebsparteien beim Kriterium “Lebensalter” zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen. Insoweit billigen ihnen Kündigungsschutzgesetz (§ 1 Abs. 3 KSchG) und Insolvenzordnung (§ 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO) einen Wertungsspielraum zu.

Die erste ausgesprochene Kündigung gegenüber der Klägerin war im Ergebnis dennoch unwirksam, weil die Auswahl der Klägerin im vorliegenden Fall allein wegen ihrer Rentennähe unter Außerachtlassung der anderen Auswahlkriterien “Betriebszugehörigkeit” und “Unterhaltspflichten” erfolgte und deswegen grob fehlerhaft war. Die vorsorgliche zweite Kündigung erklärte das Gericht hingegen als wirksam und damit das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 30. September 2020 für aufgelöst.

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 8. Dezember 2022 – 6 AZR 31/22