Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit wegen Alkoholabhängigkeit

10.04.15 – Eine Arbeitsunfähigkeit ist nur dann nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz
(EFZG) selbst verschuldet, wenn ein Arbeitnehmer in erheblichem Maße gegen das
von einem verständigen Menschen in seinem eigenen Interesse zu erwartende
Verhalten verstößt. Nur dann verliert er seinen Anspruch auf
Entgeltfortzahlung. Bei einem alkoholabhängigen Arbeitnehmer fehlt es
suchtbedingt auch im Fall eines Rückfalls nach einer Therapie regelmäßig an
einem solchen Verschulden.

Als Klägerin gegenüber dem Arbeitgeber tritt die gesetzliche Krankenkasse
des alkoholabhängige Herrn L. auf, der Mitglied der klagenden Krankenkasse
ist. Er war seit 2007 bis zum 30. Dezember 2011 Arbeitnehmer des beklagten
Arbeitgebers. Am 23. November 2011 wurde er mit einer Alkoholvergiftung (4,9
Promille) in ein Krankenhaus eingeliefert und war in der Folge für über zehn
Monate arbeitsunfähig erkrankt. Zuvor hatte er zwei stationäre
Entzugstherapien durchgeführt. Es kam jedoch immer wieder zu Rückfällen.

Die Krankenkasse leistete an Herrn L. für die Zeit vom 29. November bis zum
30. Dezember 2011 Krankengeld in Höhe von 1303,36 Euro und macht in dieser
Höhe Ansprüche auf Entgeltfortzahlung aus übergegangenem Recht (§ 115 SGB X)
gegenüber dem beklagten Arbeitgeber geltend. Sie meint, der
Entgeltfortzahlungsanspruch habe bestanden, da es an einem Verschulden des
Herrn L. für seinen Alkoholkonsum am 23. November 2011 fehle. Der
Arbeitgeber ist der Ansicht, ein Verschulden sei bei einem Rückfall nach
mehrfachem stationärem Entzug und diesbezüglich erfolgter Aufklärung zu
bejahen.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben; die
Revision der Beklagten hatte vor dem Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts
keinen Erfolg.

Bei einer Alkoholabhängigkeit handelt es sich um eine Krankheit. Wird ein
Arbeitnehmer infolge seiner Alkoholabhängigkeit arbeitsunfähig krank, kann
nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Erkenntnisse nicht von einem
Verschulden im Sinne des Entgeltfortzahlungsrechts ausgegangen werden. Die
Entstehung der Alkoholsucht ist vielmehr multikausal, wobei sich die
unterschiedlichen Ursachen wechselseitig bedingen. Dies gilt im Grundsatz
auch bei einem Rückfall nach einer durchgeführten Therapie.

Im Hinblick auf eine Abstinenzrate von 40 bis 50 Prozent je nach Studie und
Art der Behandlung kann nach einer durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme
jedoch ein Verschulden des Arbeitnehmers an einem Rückfall nicht generell
ausgeschlossen werden. Der Arbeitgeber kann deshalb in diesem Fall das
fehlende Verschulden bestreiten. Das Arbeitsgericht hat dann ein
medizinisches Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, ob der
Arbeitnehmer den Rückfall schuldhaft herbeigeführt hat (§ 3 Abs. 1 EFZG*).
Lässt sich dies nicht eindeutig feststellen, weil ein Ursachenbündel hierfür
vorliegt, geht dies zulasten des Arbeitgebers.

Das im konkreten Fall eingeholte sozialmedizinische Gutachten hat ein
Verschulden des Arbeitnehmers unter Hinweis auf die langjährige und
chronische Alkoholabhängigkeit und den daraus folgenden “Suchtdruck”
ausgeschlossen.

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 18. März 2015 – 10 AZR 99/14

* § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG lautet: Wird ein Arbeitnehmer durch
Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert,
ohne dass ihn ein Verschulden trifft, so hat er Anspruch auf
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der
Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen.