Den Fluggästen eines verspäteten Flugs steht ein Ausgleichsanspruch zu,
soweit sie infolge der Verspätung ihr individuelles Endziel mit einer
Verspätung von mindestens drei Stunden erreichen. Dies gilt auch, wenn die
verspätete Ankunft am Endziel darauf beruht, dass infolge der Flugverspätung
ein selbst nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fallender oder
selbst nicht verspäteter Anschlussflug verpasst wird.
Die Klägerin nimmt die Beklagte aus eigenem und abgetretenem Recht eines
Mitreisenden auf eine Ausgleichszahlung in Höhe von jeweils 600 Euro nach
der Fluggastrechteverordnung (Verordnung (EG) Nr. 261/2004) in Anspruch. Die
Reisenden buchten bei der beklagten Iberia S.A. für den 20. Januar 2010 eine
Flugreise von Berlin-Tegel über Madrid nach San José (Costa Rica). Der Start
des von der Beklagten durchgeführten Fluges von Berlin nach Madrid erfolgte
mit einer Verspätung von eineinhalb Stunden, was dazu führte, dass die
Reisenden den Anschlussflug nach San José nicht mehr erreichten, weil der
Einsteigevorgang bereits beendet war, als sie an dem betreffenden Ausgang
ankamen. Sie wurden erst am folgenden Tag nach San José befördert.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist
erfolglos geblieben. Auf ihre Revision hat der Bundesgerichtshof die
Beklagte nunmehr antragsgemäß zur Zahlung verurteilt.
Zwar haben die Vorinstanzen zu Recht angenommen, dass der Beklagten die von
der Klägerin geltend gemachte Beförderungsverweigerung (“Nichtbeförderung”
nach Art. 4 der Fluggastrechteverordnung*) nicht zur Last fällt, weil der
Einsteigevorgang (Boarding) bereits beendet war, als die Reisenden den
Ausgang erreichten. Die Klageforderung ist jedoch unter dem Gesichtspunkt
der großen Verspätung begründet. Wie der Gerichtshof der Europäischen Union
(EuGH) in dem Urteil “Sturgeon” vom 19. November 2009 auf die Vorlage des
Bundesgerichtshofs entschieden und im Fall “Nelson” mit Urteil vom 23.
Oktober 2012 bestätigt hat, haben nicht nur, wie in Art. 5 der Verordnung**
bestimmt, die Fluggäste annullierter Flüge, sondern auch die Fluggäste
verspäteter Flüge den in Art. 7 der Verordnung*** vorgesehenen
Ausgleichsanspruch, wenn sie infolge der Verspätung ihr Endziel erst drei
Stunden nach der vorgesehenen Ankunftszeit oder noch später erreichen. Nach
dem EuGH-Urteil vom 23. Februar 2013 in der Sache “Air France/Folkerts”
setzt dieser Anspruch nicht voraus, dass die verspätete Erreichung des
Endziels darauf beruht, dass sich der Abflug des verspäteten Flugs um die in
Art. 6 Abs. 1 der Verordnung**** genannten Zeiten verzögert hat. Es genügt
daher, dass der verspätete Abflug in Berlin dafür ursächlich war, dass die
Reisenden den Anschlussflug von Madrid nach San José nicht mehr erreichen
konnten und infolgedessen ihr Endziel erst mit eintägiger Verspätung
erreicht haben.
In einem solchen Fall ist, wie der für das Reise- und
Personenbeförderungsrecht zuständige X. Zivilsenat des BGH klarstellt,
unerheblich, ob der Anschlussflug selbst verspätet ist oder überhaupt in den
Anwendungsbereich der Verordnung fällt. Die Auffassung des beklagten
Luftverkehrsunternehmens, der EuGH habe mit der Anerkennung eines
Ausgleichsanspruchs für einen solchen Fall seine Kompetenzen überschritten,
teilt der X. Zivilsenat nicht.
Bundesgerichtshof
Urteil vom 7. Mai 2013 – X ZR 127/11
*Art. 4 der Verordnung [Nichtbeförderung]
(3) Wird
Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigert, so erbringt das
ausführende Luftfahrtunternehmen diesen unverzüglich die
Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 und die Unterstützungsleistungen gemäß
den Artikeln 8 und 9.
**Art. 5 der Verordnung [Annullierung]
(1) Bei Annullierung
eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen …
c) vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf
Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt …
***Art. 7 der Verordnung [Ausgleichsanspruch]
(1) Wird auf
diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen
in folgender Höhe: …
c) 600 Euro bei allen nicht unter Buchstabe a oder b fallenden Flügen. …
****Art. 6 der Verordnung [Verspätung]
(1) Ist für ein
ausführendes Luftfahrtunternehmen nach vernünftigem Ermessen absehbar, dass
sich der Abflug
a) bei allen Flügen über eine Entfernung von 1 500 km oder weniger um zwei
Stunden oder mehr oder
b) bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr
als 1 500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1
500 und 3 500 km um drei Stunden oder mehr oder
c) bei allen nicht unter Buchstabe a oder b fallenden Flügen um vier Stunden
oder mehr
gegenüber der planmäßigen Abflugzeit verzögert, so werden den Fluggästen vom
ausführenden Luftfahrtunternehmen
i) die Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a und
Absatz 2 angeboten,
ii) wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit erst am Tag
nach der zuvor angekündigten Abflugzeit liegt, die Unterstützungsleistungen
gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b und c angeboten und,
iii) wenn die Verspätung mindestens fünf Stunden beträgt, die
Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a angeboten.
Motiv-Foto: Klaus Serek / pixelio.de